Merkzeichen G
Urteile
Die Regelung in den versorgungsmedizinischen Grundsätzen bezüglich der Zuerkennung des Merkzeichens G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) ist nicht abschließend.
Merkzeichen G   erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr  
Die Anhaltspunkte nennen Regelfälle, in denen die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G als erfüllt anzusehen sind. Sie bestimmen damit zugleich den Maßstab, nach dem im Einzelfall zu beurteilen ist, ob dort nicht genannte Behinderungen die Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigen.
Der Kläger macht geltend, in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt zu sein (Merkzeichen G).
Bei dem Kläger waren nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) als Behinderungen mit einem (Gesamt-)Grad der Behinderung (GdB) von 40 ua festgestellt:
1. Bluthochdruck, coronare Mangeldurchblutung, Regulationsstörung des Herzens, 2. Verbiegung und umformende Veränderungen der Wirbelsäule mit Schmerzsyndrom, Schwindelbeschwerden.
Einen Neufeststellungsantrag des Klägers lehnte der Beklagte zunächst ab (Bescheid vom 6. Mai 1993). Er erhöhte den GdB dann auf 50 und stellte als weitere Behinderung "Bandscheibenvortreibungen" fest (Abhilfebescheid vom 11. November 1993), nicht dagegen die gesundheitlichen Voraussetzungen des außerdem beantragten Merkzeichens G (Widerspruchsbescheid vom 14. Dezember 1993).
Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten verurteilt, seit Januar 1994 einen GdB von 50 und die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G festzustellen (Urteil vom 28. März 1995). Es hat sich dabei auf ein im sozialgerichtlichen Verfahren eingeholtes medizinisches Sachverständigengutachten gestützt, wonach der Kläger insbesondere wegen der Behinderung von seiten der Lendenwirbelsäule außerstande sein soll, ohne erhebliche Schwierigkeiten eine Wegstrecke von 2000 Metern innerhalb einer halben Stunde zurückzulegen.
Mit der - vom SG zugelassenen (Beschluß vom 5. Dezember 1995) - Sprungrevision macht der Beklagte geltend, er sei verfahrensfehlerhaft verurteilt worden, den bereits im Abhilfebescheid in dieser Höhe festgestellten GdB mit 50 festzustellen. Außerdem habe das SG §§ 59 Abs 1 Satz 1, 60 Abs 1 Satz 1 SchwbG iVm den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht nach dem Schwerbehindertengesetz (AHP) verletzt, weil es eine erhebliche Gehbehinderung festgestellt habe, ohne dabei die in den AHP vorgegebenen medizinischen Beurteilungskriterien zu berücksichtigen.
Der Beklagte beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 28. März 1995 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz
Die Revision ist zulässig.
Zwar erscheint es zweifelhaft, ob das SG bei seinem Beschluß vom 5. Dezember 1995 über die Zulassung der Sprungrevision richtig besetzt war. Denn bei diesem Beschluß haben die ehrenamtlichen Richter mitgewirkt. Das könnte § 12 Abs 1 Satz 2 SGG widersprechen, wonach die ehrenamtlichen Richter bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung und bei Gerichtsbescheiden nicht mitwirken (vgl zur Besetzung bei nachträglicher Zulassung der Berufung Kummer, NZS 1993, 337; aA Bley in Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Stand 1995, § 12 SGG Rz 7 und § 145 SGG Rz 51). Das Revisionsgericht ist aber gleichwohl an die Zulassung des Rechtsmittels gebunden, weil die nicht vorschriftmäßige Besetzung der Richterbank die verfahrensfehlerhaft getroffene Entscheidung nicht wirkungslos macht (vgl Bley, aaO, Stand 1996, § 161 SGG Rz 7 und zum Rechtszustand vor dem 1. März 1993 BSGE 45, 138, 139 f = SozR 1500 § 161 Nr 20).
Die Revision ist auch begründet.
Soweit der Beklagte sich gegen seine Verurteilung wehrt, beim Kläger einen GdB von 50 festzustellen, macht er zu Recht einen Verfahrensfehler des SG geltend, der in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu beachten ist und deshalb trotz § 161 Abs 4 SGG zur Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung und zur Abweisung der Klage führt. Das SG hat den Beklagten verurteilt, obwohl es insoweit an einer Prozeßvoraussetzung fehlte. Das SG hat nicht beachtet, daß der Kläger für sein in der mündlichen Verhandlung vom 28. März 1995 formuliertes Ziel eines GdB von 50 kein Rechtsschutzbedürfnis hatte, weil der GdB in dieser Höhe vom Beklagten bereits durch den im Widerspruchsverfahren ergangenen (Teil-)Abhilfebescheid vom 11. November 1993 festgestellt worden war.
Im übrigen führt die Revision des Beklagten zur Aufhebung der angegriffenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das SG.
Nach § 59 Abs 1 SchwbG sind Schwerbehinderte, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, im Nahverkehr unentgeltlich zu befördern. Ob ein Schwerbehinderter infolge seiner Behinderung im Straßenverkehr bewegungsbehindert ist, bestimmt sich nach der ergänzenden Definitionsnorm des § 60 Abs 1 SchwbG: Er muß ua infolge einer Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden, nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich und andere Personen Wegstrecken im Ortsverkehr zurücklegen können, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.
Zu Recht ist das SG davon ausgegangen, daß im Ortsverkehr üblicherweise Wegstrecken bis zu 2000 Meter noch zu Fuß zurückgelegt werden, und ebenfalls zu Recht hat es diesen Vergleichsmaßstab für die rechtserhebliche Bewegungsbeeinträchtigung um einen Zeitfaktor, nämlich eine Gehzeit von 30 Minuten für die genannte Strecke, ergänzt (vgl dazu BSGE 62, 273 ff = SozR 3870 § 60 Nr 2; s auch Poppe-Bahr in Großmann/Schimanski/Dopatka/Pikullik/Poppe-Bahr, Gemeinschaftskomm zum SchwbG, 1992, § 60 RdNr 11). Das SG hat aber weiter angenommen, die in den AHP genannten medizinischen Kriterien für eine erhebliche Gehbehinderung widersprächen diesem von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) bestimmtem Vergleichsmaßstab und seien deshalb unverbindlich. Das trifft nicht zu.
Ein Widerspruch besteht schon deshalb nicht, weil die zitierte Rechtsprechung zum Vergleichsmaßstab und die in den AHP aufgeführten medizinischen Kriterien verschiedene Merkmale im Tatbestand des § 60 Abs 1 Satz 1 SchwbG betreffen. Der Senat hat als allgemeine Tatsache ermittelt und festgelegt, welche Wegstrecken nach den tatsächlichen Gehgewohnheiten der Bevölkerung "im Ortsverkehr ... üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden" (BSGE 62, 273, 277 = SozR 3870 § 60 Nr 2). Die ansonsten mit den AHP 1983 inhaltsgleichen AHP 1996 haben diesen Maßstab übernommen (Ziff 30 Abs 2 S. 165). An ihm gemessen geben die AHP darüber hinaus als antizipierte Sachverständigengutachten (BSGE 72, 285, 286 = SozR 3-3870 § 4 Nr 6) aber auch an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, bevor angenommen werden kann, daß ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit tragen die AHP dem Umstand Rechnung, daß das Gehvermögen des Menschen keine statische Meßgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen (vgl Gebauer, MEDSACH 1995, 53). Von diesen Faktoren filtern die AHP all jene heraus, die nach § 60 Abs 1 Satz 1 SchwbG außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des Schwerbehinderten im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden, oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen. Die AHP 1983 beschreiben dazu in Ziff 30 Abs 3 bis 5 (S 127 f; ebenso AHP 1996, S 166 f) Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die Voraussetzungen für das Merkzeichen G als erfüllt anzusehen sind, und die bei dort nicht erwähnten Behinderungen als Vergleichsmaßstab dienen können (vgl Rauschelbach und Pohlmann in Rohr/Strässer, Bundesversorgungsrecht mit Verfahrensrecht, Bd V, Stand 1992, S A 254; siehe auch Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 10. September 1996 - L 4 Vs 6/96 - JURIS Nr KSRE 023241616). Die AHP gehen damit für das Merkzeichen G ähnlich vor, wie die in die AHP übernommenen straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften bei der außergewöhnlichen Gehbehinderung (Merkzeichen aG). In Nr 31 Abs 3 AHP 1996 (S 168) sind Gesundheitsstörungen aufgezählt, die typischerweise eine außergewöhnliche Gehbehinderung zur Folge haben, so daß ohne weitere Prüfung die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG festzustellen sind. Anspruch darauf hat darüber hinaus aber auch, wer nach Prüfung des einzelnen Falles aufgrund anderer Erkrankungen mit gleich schweren Auswirkungen auf die Gehfunktion dem beispielhaft aufgeführten Personenkreis gleichzustellen ist (vgl dazu das Senatsurteil vom 12. Februar 1997 - 9 RVs 11/95 -, nicht veröffentlicht).
Diesen Maßstab hat das SG verkannt, indem es die AHP außer acht gelassen und unabhängig davon, gestützt allein auf das Einzelfallgutachten des medizinischen Sachverständigen eine behinderungsbedingte Einschränkung des Gehvermögens angenommen hat. Eine abschließende Entscheidung ist dem Senat nicht möglich, weil das sozialgerichtliche Urteil dafür keine genügenden Feststellungen enthält. Das SG wird nunmehr zu prüfen haben, ob der Kläger nach den in den AHP niedergelegten medizinischen Kriterien - möglicherweise unter Gleichstellung mit dem dort beispielhaft aufgeführten Personenkreis - die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G erfüllt.
Das SG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.